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Inhalt:

  • 1. Geht es dem Angehörigen gut, fühlt sich auch der Kranke wohl
  • 2. Auch die weiteste Reise beginnt mit dem ersten Schritt
  • 3. Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt ...
  • 4. Wie Pilze aus dem Boden ...
  • 5. Gremienarbeit: Keine Angst vor "hohen Tieren"
  • 6. Zeit und Geld werden knapp
  • 7. Rückschläge: Auferstanden aus Ruinen
  • 7.1 Konzepte für den Papierkorb? Niemals!
  • 7.2 Do never give up!
  • 7.3 Wenn man zu viel um die Ohren hat
  • 8. Mehrgleisig fahren führt zum Ziel!
  • 9. Bis ans andere Ende der Welt
  • 10. Intuitiv das Rad zum 2. Mal erfunden?
  • 11. Überzeugungsarbeit bei den Entscheidungsträgern
  • 12. Quo vadis?

  • 1. Geht es dem Angehörigen gut, fühlt sich auch der Kranke wohl

    Die einen belächeln den Kranken. Andere schauen einfach weg. Auch Spott ist nicht selten. Und der Angehörige an der Seite des Verwirrten, steht überfordert, ratlos und alleingelassen daneben. Solche Erlebnisse während meines Berufspraktikums machten mich tief betroffen und weckten in mir den Wunsch, den pflegenden Angehörigen von Demenzkranken dabei zu helfen, ihren schweren Pflegealltag mit Optimismus und Lebensmut zu füllen.

    1993 begann ich in Marzahn mit der praktischen Arbeit, den Angehörigen von Demenzkranken zu helfen. In dieser Zeit haben sich sechs Formen der Hilfestellung herauskristallisiert, die ich inzwischen in vier Stadtbezirken anbiete (davon drei im Ostteil der Stadt).

    1. Beratungssprechstunde

    2. Einzelberatung

    3. Telefonberatung

    4. Hausbesuche

    5. Fachlich geleitete Gesprächsgruppen für Pflegende mit gleichzeitiger Krankenbetreuung

    6. Vortragsreihe "Betreuung und Pflege Demenzkranker"

    In verschiedenen Konzepten habe ich diese Hilfsangebote für einen Träger so zu bündeln versucht, daß die Pflegenden sich die Hilfsangebote aussuchen können, die für ihre individuelle Lebenssituation am angemessensten sind.

    Damit verfolge ich folgende Ziele:

    1. Psychische Entlastung der Pflegenden z.B. durch Überwindung ihrer sozialen Isolation.

    2. Erleichterung und Verbesserung der Pflege durch Erhöhung der Pflegekompetenz

    Dadurch wird:

    3. die Gesundheit des Pflegenden stabilisiert,

    4. die Lebensqualität für den Pflegenden und den Kranken verbessert,

    5. der Krankheitsverlauf und die drohende Heimeinweisung verzögert.

    Kosteneinsparungen bei Kranken- und Pflegekassen sowie bei den Sozialämtern sind eine gern gesehene Begleiterscheinung meiner Hilfsangebote.

    Aufgeklärte pflegende Angehörige nehmen ärztliche Hilfe und Pharmazeutika gezielter und nutzbringender in Anspruch. Das Bewußtsein für alternative nicht-medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten sowohl des Kranken als auch seines pflegenden Angehörigen wird geschärft. Diese präventive Gesundheitsförderung vermindert somit die Gefahr einer späteren Medikalisierung und erspart die dadurch virtuell drohenden Kosten.

    Durch Verminderung des seelischen und körperlichen Beschwerdedrucks bei den Pflegenden und dauerhafte Stabilisierung auf einem möglichst niedrigen Niveau werden

    • die Anzahl der durch die Beschwerden bedingten Arztbesuche verringert und
    • die Bereitschaft der Pflegenden zur Pflegeleistung gestärkt
    • bei gleichzeitig verbesserter Pflege des Demenzkranken,
    • die wiederum dessen Morbidität verringert.

    Diese bislang fast ausschließlich auf ehrenamtlicher Basis geleistete Arbeit wird seit dem 1. 9. 1995 von der Senatsverwaltung für Soziales unter der Trägerschaft des Sozialpädagogischen Instituts (SPI) gefördert. Damit ist ein ganz wesentlicher Meilenstein in Richtung auf das ursprünglich gesteckte Ziel erreicht. Es besteht nämlich bereits jetzt Einigkeit darüber, daß die bestehende Arbeit nicht nur fortgeführt, sondern allmählich auf ganz Berlin ausgeweitet werden soll.

    Eine so breit angelegte Unterstützung pflegender Angehöriger von Demenzkranken gab es in Berlin bislang nicht. Ein Lichtblick für die Angehörigen der ca. 41.000 Demenzkranken in der Bundeshauptstadt. Bis alle versorgt sein werden, wird aber noch viel Wasser die Spree herunterlaufen.

    2. Auch die weiteste Reise beginnt mit dem ersten Schritt

    In meinem Bemühen, den pflegenden Angehörigen und dem Kranken zu helfen, begann ich im September 1993 als ehrenamtliche Mitarbeiterin der Alzheimer Gesellschaft Berlin e.V. (AGB) mit gelegentlichen Telefonberatungen. Sehr schnell merkte ich, daß ich am Telefon allein keine wirkliche Hilfe leisten konnte. Das persönliche Gespräch mit den meist verzweifelten Angehörigen war das Mindeste, was sie an Hilfe und Anteilnahme erwarten durften. Menschen, die am Rande der Verzweiflung sich aussprechen wollen, brauchen ein mitfühlendes Gegenüber, das hin und wieder auch mit einen warmen, verständnisvollen Blick antwortet.

    So entschloß ich mich, selbst eine Beratungssprechstunde einzurichten. in den "Mitteilungen" der AGB hatte ein Angehöriger aus Ost-Berlin sich darüber beklagt, daß es keine Hilfsangebote im Ostteil dieser riesigen Stadt gab. Angesichts seiner schwierigen Pflegesituation war die Beratungssprechstunde der AGB in Berlin-Wilmersdorf so gut wie unerreichbar.

    Im dem Haus, in dem die AGB untergebracht ist, hat auch die Selbsthilfe Kontakt- und Informationsstelle (SEKIS) ihren Sitz. Dort erhielt ich ein Heft mit den Adressen der Selbsthilfekontaktstellen in Berlin. Ich ließ den Zufall walten: Während ich das Heft über den linken Daumen blättern ließ, stieß ich mit dem rechten Zeigefinger zwischen die Seiten. Bereits der erste Versuch war ein Treffer: Marzahn, eine gigantische Plattenbausiedlung weit im Osten unserer Metropole.

    Mein Anruf bei der Selbsthilfe-, Kontakt- und Beratungsstelle Marzahn (SPI) stieß auf großes Wohlwollen. Ein Termin im November 1993 wurde vereinbart, bei dem ich mir mein Projektbüro und Räume für spätere Gruppentreffen ansehen konnte. Telefon, Kopierer, FAX - alles da und das wichtigste: 2 SPI-Mitarbeiter, die mich in meiner Arbeit unterstützen wollten, z.B. bei der Öffentlichkeitsarbeit.

    3. Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt...

    Fortan reduzierte ich meine freiberufliche Tätigkeit. Der Donnerstag war fortan meiner Aufbauarbeit gewidmet. Ein Infoblatt wurde erstellt und an die Zeitungen und Sozialstationen verschickt. Das per Hauswurfsendung verteilte Anzeigenblatt mit redaktionellem Teil erwähnte meine Beratungssprechstunde. Das war ein Anfang und es meldeten sich daraufhin auch die ersten Angehörigen. Am 3. März 1994 kam der erste Besucher in meine Beratungssprechstunde. Dennoch blieb viel Zeit der Sprechstunde noch ungenutzt.

    So machte ich mich auf den Weg und besuchte die nahegelegen Sozialstationen persönlich. Bei den entfernteren stellte ich mich wenigstens telefonisch vor. Auch beim Geschäftsführer der AOK Marzahn machte ich meine Aufwartung und hinterließ dort meine Infoblätter.

    Im Mai begann ich, mit Hausbesuchen, um mir ein persönliches Bild von den Lebensumständen der Betroffenen zu machen. Das war sehr wichtig, um viele kleine Tips zu geben, die im praktischen Alltag aber von größter Bedeutung waren.

    Ich ließ auch die Kranken zu mir bringen und schickte die Angehörigen für zwei Stunden einkaufen oder andere Wege erledigen. In der Zwischenzeit versuchte ich herauszubekommen, über welche Fähigkeiten der Kranke noch verfügte. Oft waren die Angehörigen überrascht, was ihre Kranken alles noch konnten.

    4. Wie Pilze aus dem Boden ...

    Im Januar 1994 erfuhr ich über die AGB, daß der Selbsthilfe-Treffpunkt Friedrichshain (Volkssolidarität) und die Kontaktstelle für Selbsthilfe und Initiative in Berlins Mitte (SEIN e.V.) ebenfalls Interesse an einer Beratungssprechstunde für Pflegende Angehörige Demenzkranker und entsprechende Gesprächsgruppen bekundet hätten. Wir verabredeten gemeinsame Termine und so begann ich am 3. Juni 1994 in Mitte mit meiner ersten Beratungssprechstunde bei SEIN e.V und am 11. August 1994 bei der Volkssolidarität. Bereits lange vorher, begann ich aber dort mit ersten Hausbesuchen und stand auch mit meiner Privatnummer zur telefonischen Krisenberatung zur Verfügung.

    Am 15. bzw. 18. August 1994 traf sich die erste Selbsthilfegruppe in Berlin-Mitte bzw. Marzahn. Am 3. und 28. November 1994 kamen weitere in Friedrichshain und Zehlendorf (Nachbarschaftsheim Mittelhof Berlin e.V.) dazu. Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPW) hatte der AGB Mittel bewilligt, um eine Altenpflegerin zu bezahlen, die während meiner Gesprächsgruppen die Kranken betreute. Neben der Wohnortnähe war das für etwa die Hälfte der Angehörigen die zweite unverzichtbare Voraussetzung, um überhaupt an den Treffen teilzunehmen.

    5. Gremienarbeit: Keine Angst vor "hohen Tieren"

    Am 15. Juni 1994 begann ich meine Gremienarbeit. An diesem Tag hielt ich ein Kurzreferat zum 1. Jahrestag des Selbsthilfetreffpunktes Friedrichshain. Eine glückliche Fügung ließ mich direkt neben dem neu ernannten Vorsitzenden, Dr. Kallas, Platz nehmen, der von meiner Rede ganz beeindruckt war. Er sorgte dafür, daß sein Vorstandskollege, Dr. Winter, zu mir Kontakt aufnahm, mit dem Ziel, mit der Volkssolidarität gemeinsam "etwas auf die Beine zu stellen".

    Am 9. Februar 1995 veranstaltete das Institut für Sozialwissenschaftliche Analysen und Beratung (ISAB) ein Selbsthilfe-Forum in Berlin Mitte, zu dem ich als "Expertin" eingeladen wurde. Dort gab es für mich zwar keine Möglichkeit, mein Projekt darzustellen, ich nutzte aber die Gelegenheit der Klarstellung, daß Alzheimer-Selbsthilfegruppen keine Selbsthilfe von Betroffenen für Betroffene sein kann: Pflegenden Angehörigen fehlt es an Kraft und Zeit, um die notwendige Aufbauarbeit zu leisten - und wußte wovon ich redete. Darüberhinaus erfordert der Krankheitsverlauf vom Angehörigen eine ständige Anpassung an neue Situationen. Hierzu braucht er die permanente fachliche Begleitung einer erfahrenen Fachkraft. Das kam an! Fr. Dr. Fuhrmann von der Senatsverwaltung für Soziales (sie saß - welch ein Zufall - neben mir) erkundigte sich daraufhin dezidiert nach meiner Arbeit und der Situation der pflegenden Angehörigen. In der Pause kam Frau Drees auf mich zu, die beim Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPW) den Arbeitskreis "Gesundheitsförderung, Prävention und Selbsthilfe" leitet. Sie war von meiner Schlußbemerkung "Geht es dem Angehörigen gut, fühlt sich auch der Kranke wohl." so beeindruckt, daß sie ihn sich aufschrieb. Dieser Satz sollte der Anknüpfungspunkt für gemeinsame Arbeit sein. Es folgte eine Einladung zu diesem Arbeitskreis, auf dem ich mich kurz vorstellen konnte. Das war so überzeugend, daß mein Thema "Konzepte für die Entlastung pflegender Angehöriger" prompt TOP1 der nächsten Sitzung wurde.

    Aufgrund eines Anrufs bei der Koordinatorin für die Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft (PSAG) Marzahn, Fr. Dr. Gilgen-Hennig, wurde ich zur nächsten Sitzung am 21. Juni 1995 eingeladen. Wie zuvor beim DPW wurde ich gebeten, mein Konzept auf der nächsten Sitzung am 16. August vorzustellen. Am Rande der PSAG lernte ich wiederum den Neurologen Dr. Dreßke kennen, der mit mir zusammenarbeiten will.

    Während dieser Sitzung machte der Enthospitalisierungsbeauftragte des Wilhelm-Griesinger-Krankenhauses, Uwe Klein, einen Vorschlag, den ich schon lange im Kopf hatte: Man müßte doch aus Ärzten und Sozialarbeitern eine Arbeitsgemeinschaft Gerontopsychiatrie gründen, die sich für die Interessen der Demenzkranken aus Marzahn und den angrenzenden Bezirken einsetzt. Während dieser PSAG-Sitzung ging dieser Vorschlag zwar unter, aber ich nahm später zu Herrn Klein wieder telefonisch Kontakt auf. Wir führten ein langes Gespräch, an dessen Ende sich Herr Klein bereit erklärte, Einladungen zur konstituierenden Sitzung der Arbeitsgruppe Gerontopsychiatrie am 22. August eingeladen zu verschicken. Ich freue mich, auf diese Weise zum Zustandekommen dieses Gremiums beigetragen zu haben.

    Das Wichtigste an all diesen Veranstaltungen war, daß ich mich hier den "Multiplikatoren" vorstellen konnte, die engen Kontakt zu meiner "Zielgruppe" haben. Diese Arbeit erwies sich als mindestens so wirksam wie die Öffentlichkeitsarbeit über Presse und Rundfunk (Life-Interview am 25. November 1994 auf SFB anläßlich der ersten Gruppensitzung in Zehlendorf).

    6. Zeit und Geld werden knapp

    Ab Juni 1994 nahmen meine Aktivitäten so viel Zeit in Anspruch, daß ich mir auch den Montagnachmittag frei halten mußte. Ab November gar reduzierte ich meine freiberufliche Arbeit auf 2 bis max. 4 Stunden täglich - der Donnerstag blieb weiter unangetastet. Das war natürlich mit erheblichen finanziellen Einbußen verbunden. Die Selbsthilfekontaktstellen taten finanziell was sie konnten, aber mehr als Einmalzahlungen von max. 300 DM waren einfach nicht drin. Das reichte gerade mal für die laufenden Kosten, die meine Aktivitäten verursachten.

    Das Nachbarschaftsheim Mittelhof Berlin e.V. sah ebenfalls keine Möglichkeiten, meine Leistungen für die Leitung der Gesprächgruppe besser zu honorieren, stellte mir aber eine angemessenere Bezahlung als Dozentin in Aussicht. Über die Kursgebühren kam genügend Geld in die Kasse, um mir ein Honorar zu zahlen, daß meinem Stundenlohn als freiberuflicher Altenpflegerin entsprach.

    Dieses Geld war aber schneller ausgegeben als eingenommen. Für 250 DM wurde jetzt erst einmal ein alter Computer angeschafft. Vor diesem Ding verbrachten mein Mann und ich fortan Tage und Nächte. Mit war also nicht nur das Geld, sondern auch gleich noch die Zeit dazu knapper geworden. Dennoch bereue ich diesen Schritt keineswegs. Auf diese Weise habe ich nämlich meine praktische Erfahrung um eine gehörige Portion theoretisches Wissen erweitert. Ganz nebenbei entwickelte ich dabei auch einen methodischen Ansatz, im Umgang mit problematischen Verhaltensweisen Demenzkranker.

    Nicht erst seit dieser Zeit habe ich in meinem Mann einen tüchtigen Mitstreiter gefunden. Mein Arbeitspensum wäre überhaupt nicht zu schaffen, säße er nicht jeden Abend vor dem PC und entwirft mit mir Vortragsfolien, Konzepte, Serienbriefe und Infoblätter. Außerdem beschafft mein Mann wissenschaftliche Arbeiten, übersetzt sie aus dem Englischen und bereitet die darin enthaltenen Erkenntnisse für mich auf. Arbeit und Freizeit fließen seither ineinander über. Unsere Arbeit ist unser Leben. Der Umfang des Kontaktes zu unseren sechs (meist erwachsenen) Kindern wird im wesentlichen von ihnen selbst bestimmt.

    7. Rückschläge: Auferstanden aus Ruinen

    7.1 Konzepte für den Papierkorb? Niemals!

    Unser erstes Konzept entstand unter großem Zeitdruck auf Anregung des SEIN e.V. Es hatte zum Ziel, meine Arbeit als 40-Std.-Planstelle in 5 Selbsthilfekontaktstellen - die Bezirke Treptow und Prenzlauer Berg sollten hinzukommen - im täglichen Wechsel fortzuführen. Als Ergänzung meiner bisherigen Hilfsangebote haben wir in das Konzept auch Betreuungsgruppen mit aufgenommen, in denen die Angehörigen gemeinsam ihre Kranken wie in einer Tagespflegestätte betreuen.

    Betreuungsgruppen sind nicht nur eine kostengünstige Alternative zu Tagespflegestätten (die oftmals auch die Aufnahme von problematischen Demenzkranken verweigern), sondern sie bieten mir auch Gelegenheit zur praktischen Anleitung des in der Vortragsreihe oder den Gesprächsgruppen vermittelten Wissens.

    Derartige Gruppen gibt es in Berlin noch nicht. Auf der Jahrestagung der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft am 11. November in Berlin lernten wir den Geschäftsführer der Baden-Württembergischen Alzheimer-Gesellschaft kennen, der auf diesem Gebiet bereits Pionierarbeit geleistet hat. Er unterstützte uns mit Kopien seines Schriftwechsels in dieser Angelegenheit bei der Erstellung dieses Teils des Konzeptes.

    Das nächste Treffen der kooperierenden Selbsthilfekontaktstellen, auf dem das Konzept vorgestellt werden sollte, fiel unerwartet aus. Damit hatten wir uns nicht nur unnötig Streß gemacht, es stellte sich dann auch noch heraus, daß die anderen Selbsthilfekontaktstellen diesen Ansatz von vornherein als zum Scheitern verurteilt ansahen, da sie alle einen anderen Träger haben. Immerhin, wir hatten unsere Gedanken geordnet und überzeugend niedergeschrieben. Und - was wir damals nicht wissen konnten - waren die organisatorischen Hürden durchaus nicht unüberwindbar. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg! Für das Entstehen der "Angehörigen Initiative Berlin" wird es noch eine wichtige Rolle spielen - doch dazu später mehr.

    7.2 Do never give up!

    War das zunächst für den Papierkorb erstellte Konzept ein Ärgernis, drohte das nächste Ereignis kurze Zeit später die gesamte Aufbauarbeit zunichte zu machen. Ich war wie vor den Kopf gestoßen und nahe daran aufzugeben:

    Die AGB hatte die während der Gesprächsgruppen stattfindende Krankenbetreuung bis Ende 1994 mitfinanziert. Dennoch erhielt ich Anfang Dezember 1994 einen Brief, in dem mir die 1. Vorsitzende der AGB, Fr. Fuhrmann, u.a. folgendes mitteilt: "Die Gruppen werden eigenverantwortlich von Ihnen geführt, die Demenzkranken werden unter Ihrer Verantwortlichkeit betreut; beide sind kein Teil der Alzheimer Gesellschaft Berlin, so daß sie auch nicht unter deren Namen oder Logo angekündigt oder betrieben werden können. Eventuell weiterhin geplante Aktivitäten unterliegen ebenfalls diesen Bedingungen." Auf Nachfrage sagte mir das Vorstandsmitglied, Fr. Neujahr, daß meine Aktivitäten, von der AGB einen so hohen personellen und organisatorischen Aufwand erforderten, wie ihn die AGB nicht leisten könne.

    Ich war also gezwungen, vorerst weiter als "Privatperson" aufzutreten und hatte damit einen schlechten Stand, da jeder meiner Gesprächspartner zunächst erwarten durfte, daß mein Vorhaben mit den Aktivitäten der AGB konkurriere. Da die AGB aber bereits gefördert wird mußte ich befürchten. daß eine weitere Förderung meines Projektes nicht in Frage kommen würde. So fehlte meiner Arbeit nicht nur die Unterstützung der AGB, ich sah sie sogar indirekt durch die AGB behindert.

    Ich setzte nun alles auf eine Karte: Den Mitarbeitern der Selbsthilfekontaktstellen schilderte ich meine Situation und stellte in Aussicht, daß ich meine Arbeit einstellen würde, falls sich dafür kein Träger finden ließe. Die Volkssolidarität und das SPI nahmen die Herausforderung an: Während sich der Vorstand der Volkssolidarität um eine ABM-Stelle für mich bemühen wollte, reichte die Geschäftsführerin des SPI, Fr. Troscheid, mein Konzept vom November bei der Senatsverwaltung für Soziales ein. Die darin enthaltene Idee einer "Angehörigeninitiativ Geriatrische Tagesstätte" faszinierte sie. Da sich im März 1995 abzeichnete, daß mit einer schnellen Entscheidung nicht zu rechnen sei, reichten wir einen weiteren Antrag über die Förderung einer halben Stelle für meine Aktivitäten in Marzahn ein. Das SPI wollte jedenfalls diese inzwischen rege in Anspruch genommene Einrichtung erhalten und ausbauen. Ich sollte im Rahmen dieser halben Stelle meine Arbeit in Marzahn fortführen und eine zweite Gesprächsgruppe aufbauen.

    7.3 Wenn man zu viel um die Ohren hat

    Meine Projektvorstellungen bei den verschiedenen Gremien bereitete ich stets exzellent vor und paßte jedesmal die zu verteilenden Unterlagen den jeweiligen Erfordernissen an. Auch die Verhandlungen mit der Volkssolidarität - ich war mit einer ABM-Stelle nicht einverstanden - und dem SPI mußten gründlich schriftlich ausgearbeitet werden.

    Das war aber alles noch gar nichts gegen die Vorbereitung meines ersten sechsteiligen Kurses für pflegende Angehörige und Pflegepersonal, den ich ab 1. März 1995 im Mittelhof halten wollte. Keine Nacht kamen mein Mann und ich vor Mitternacht vom Schreibtisch weg - und die Wochenenden wurden freilich durchgearbeitet, manche Tage von 7 bis 24 Uhr!

    Bereits Mitte 1994 hatte ich mich für ein Validation-Seminar angemeldet, das die Begründerin dieser Interventionsmethode, Fr. Naomi Feil, bei meiner ehemaligen Ausbildugsstätte, dem Institut für Angewandte Gerontologie (IFAG), halten würde. Die Ausbildung lief über neun Monate an diversen Wochenenden. Ich bin eine glühende Verehrerin von Naomi Feil und begeistert von ihrem Ansatz, den ich mit großem Engagement anwende und weitervermittle. Inzwischen gehöre ich zu den ersten 25 Validation-Workern, die von Naomi Feil persönlich in Deutschland ausgebildet wurden.

    Als ich Ostern 1995 von einem solchen Validation-Seminar nach Hause fuhr, merkte ich, daß mein Gehör auf dem rechten Ohr ausfiel. Ein Hörsturz - auch das noch! Ich fuhr mit dem Bus gar nicht erst nach Hause, sondern stieg unterwegs am Krankenhaus aus. Eine Besserung trat jedoch trotz sofortiger Therapie nur sehr zögerlich ein. Wiederhergestellt ist mein Gehör bis heute nicht, dafür habe ich jetzt ein permanentes Rauschen im Ohr. Mit dem Tinnitus werde ich mich wohl bis ans Ende meiner Tage anfreunden müssen. Jetzt sind mein Mann und ich Leidensgenossen.

    8. Mehrgleisig fahren führt zum Ziel!

    Zum 5. Jahrestag des SEIN e.V. nutzten mein Mann und ich die Gelegenheit, noch einmal zu unterstreichen, daß ich die Aktivitäten in Berlin Mitte einstellen würde, wenn sich die Selbsthilfekontaktstelle nicht stärker engagieren würde. Von den Jubilaren reagierte Fr. Kühn am konstruktivsten. Sie versprach, uns argumentativ zu unterstützen, um von den Krankenkassen gefördert zu werden. "Gesundheitsförderung" hieß das Zauberwort.

    Zunächst aber zauberte es erst einmal eine Menge neuer Arbeit auf unseren Schreibtisch. Das inzwischen mehrfach überarbeitet Konzept mußte nun argumentativ neu ausgerichtet werden:

    • In den Vordergrund wurde mein erfolgreich abgehaltener Kurs gestellt, der sich inzwischen überaus heftiger Nachfrage erfreut. Über von den Krankenkassen organisierten Kurse sollten die Angehörigen erreicht werden, um sie nach Anschluß des Kurses in eine dann aufzubauende Gesprächsgruppe zu überführen, verbunden mit telefonischer und persönlicher Einzelberatung sowie Hausbesuchen und Betreuungsgruppen zur praktischen Anleitung.
    • Außerdem mußte der wirtschaftliche Nutzen für die Kostenträger glaubhaft belegt werden. Eine spannende Episode, auf die ich gleich noch eingehen werde.
    • Mit der Untermauerung des wirtschaftlichen Nutzens anhand der wissenschaftlichen Veröffentlichungen erwuchs die Notwendigkeit, auch den Qualitätsgewinn, durch die von mir vorgeschlagenen Hilfsangebote, wissenschaftlich zu belegen. Auch das ist eine Geschichte für sich.

    Das fertige Konzept schickte ich an diverse Krankenkassen und Wohlfahrtsverbände in Berlin, nicht ohne vorher mit dem jeweils zuständigen Sachbearbeiter telefoniert zu haben. Überall stieß ich auf wohlwollendes Interesse.

    Die Techniker-Krankenkasse (TK) erklärte sich inzwischen bereit, die Kurse für ihre Mitglieder voll zu finanzieren, nicht aber zu organisieren. In diesem Sinne antwortete mir auch die Innungs Kranken Kasse (IKK), mit der Einschränkung daß sie ihre Leistungen auf 75% der Kosten, max. 300 DM, pro Teilnehmer begrenzen. Gespräche mit der AOK, Barmer Ersatzkasse und der Caritas stehen noch aus.

    Insgesamt zeichnete sich aber nicht der gewünschte Erfolg ab. So griff ich die Anregung des SPI und des Mittelhofs auf, mich mit meinem Konzept am Ideenwettbewerb "Berliner Gesundheitspreis '95" zu beteiligen. Wenn schon nicht bei den Krankenkassen - dort würde mein Konzept mit Sicherheit gründlich gelesen. Zwar machte ich mir keine ernsthaften Hoffnungen auf einen Preis, wohl aber auf aussichtsreiche Kontakte zu einem potentiellen Träger. Darüberhinaus erwartete ich, daß der Veranstalter des Wettbewerbs, die AOK Berlin und die Ärztekammer Berlin, ihren Einfluß auf den potentiellen Träger geltend machen würden, so daß er schließlich tatsächlich die Trägerschaft übernehmen würde.

    Obwohl sich ja nun inzwischen ein Träger gefunden hat, untermauert derzeit mein Mann das Konzept für den Ideenwettbewerb weiter wissenschaftlich. Wir erhoffen uns dadurch, daß die Pflegekassen gemäß § 45 (1) PflegeVG stärker in die Pflicht genommen werden und so die Grundlage für den weiteren Ausbau der Angehörigen-Initiative Berlin gelegt wird. Darüberhinaus hoffen wir, daß die eingereichte Arbeit für weitere Angehörigen-Initiativen in anderen Städten förderlich sein wird.

    Schließlich beteilige ich mich noch am Altenpflege-Preis 1996 des Vincentz-Verlags, mit der Hoffnung, der inzwischen Realität gewordenen "Angehörigen Initiative Berlin" die nötige Publizität zu vermitteln, die sie für ein kräftiges Wachstum dringend braucht, damit ich mein Ziel, einer flächendeckenden Versorgung der pflegenden Angehörigen Demenzkranker in Berlin, verwirklichen kann.

    9. Bis ans andere Ende der Welt

    Meine Hausärztin, Fr. Dr. Landscheid, gab mir vor längerer Zeit ein Exemplar des "Demenz-Spektrums" der pharmacia GmbH, in dem wir eine kurze Notiz über das sensationelle Ergebnis einer Interventionsstudie fanden. Der australische Professor der Psychogeriatrie, Henry Brodaty, hatte herausgefunden, daß durch breit angelegte Interventionsmaßnahmen (10-Tage-Intensivtraining + 1 Jahr Telefonberatung mit abnehmender Häufigkeit) sich eine Heimeinweisung Demenzkranker deutlich verzögern läßt: 4 Jahre nach der Interventionsmaßnahme lebten noch 55% der Demenzkranken zu Hause, gegenüber 4% der Kontrollgruppe (ohne Unterstützungsmaßnahmen).

    Mein Mann bestand darauf, nicht das Demenz-Spektrum zu zitieren, sondern die Originallitereatur. Da uns eine Recherche am Universtäts-Klinikum Steglitz nicht weiter brachte, nahm er schließlich Kontakt zur Universität Erlangen auf. Herr Dr. Gräßel vom Kopfklinikum hatte mir vor einem halben Jahr ein Paket Fragebögen für meine Angehörigen zugeschickt. Folglich forschte er auf dem Gebiet "Pflegender Angehöriger" und mußte von der australischen Studie wissen. Dem war zwar nicht so, aber er versprach, bei seiner bevorstehenden Recherche an uns zu denken.

    Zu gern hätte ich mich auf dem nächsten Gremium auf Mr. Brodaty direkt berufen. Und so schrieben wir Mr. Brodaty direkt an. Es kam auch prompt eine Antwort - leider war das übersandte Material (ein Zeitplan für die Kursteilnehmer von 1987) völlig unbrauchbar. Hatten wir uns so unverständlich ausgedrückt?

    Inzwischen waren die Sommerferien vorbei und der Chefredakteur des Demenz-Spektrums sandte uns nach erneuter Aufforderung den gewünschten Originalbeitrag zu. eine Kopie ging sofort nach Erlangen, von wo als Dankeschön fünf Hinweise auf aktuelle wissenschaftliche Arbeiten zu meinem Thema zurückkamen. Das Tor zum Reich der Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung hatte sich damit für uns geöffnet.

    10. Intuitiv das Rad zum 2. Mal erfunden?

    Inzwischen haben wir gelernt, daß es ein weiter Weg von einer Literaturangabe bis zum Vorliegen der zitierten Literatur ist. Von der überwältigenden Fülle medizinischer und psychologischer Fachzeitschriften unterhält das Universitäts-Klikum Steglitz nur einen kleinen Bruchteil. Nicht eine der fünf Literaturangaben war dort einsehbar. Nur eine in Berlin vorhanden, drei in Deutschland verfügbar, und die fünfte (und wichtigste - eine Übersichtsarbeit!) anscheinend gar nicht. Nur nicht aufgeben, auch wenn man u.U. auf eine Fernleihe Monate warten muß, schließlich hatten wir - den tüchtigen Bibliothekaren sei Dank - sogar die ersehnte Übersichtsarbeit.

    Nun endet jede wissenschaftliche Arbeit mit einem Literaturverzeichnis, in dem die Literatur benannt wird, auf die sich der Autor beruft. Hoch interessante Ergebnisse tuen sich da vor unseren erstaunten Augen auf. Da ruht ein Schatz, der "nur" geborgen zu werden braucht! Mein Mann hat sich ein PC-Wörterbuch besorgt, und "knackt" jetzt jedes Wochenende eine Arbeit. Er macht das mit einem Eifer, als wolle er eine Diplomarbeit schreiben. Da gibt es Tonnen wissenschaftlicher Literatur, die sich mit dem pflegenden Angehörigen befaßt, aber nicht ein einziges zusammenfassendes Buch. Unglaublich, wie sehr man hierzulande das zweite Opfer, das die Demenzerkrankung stets fordert, vernachlässigt!

    Das Erstaunlichste an den inzwischen ausgewerteten Arbeiten ist, daß zwar alle meine Hilfsangebote in ihrer Wirksamkeit belegt sind, jede isolierte und zeitlich begrenzte Maßnahme auf Dauer aber unwirksam bleibt. So ist z.B. ein einmaliger Kurs - vor pflegenden Angehörigen von Alzheimer Support Groups gehalten - in jeder Hinsicht völlig wirkungslos. An sehr vielen Stellen wird es immer wieder bestätigt, nur breit angelegte, dauerhaft verfügbare Interventionsmaßnahmen fördern die Gesundheit der Betroffenen (Pflegender und Gepflegter), entspannen den psychischen Streß und verzögern die Heimeinweisung des Demenzkranken.

    Ich frage mich, wenn das alles schon bekannt war, als ich mit meinem Engagement angefangen habe, warum hat mir das niemand gesagt - zum Beispiel die Alzheimer-Gesellschaft? Und vor allem, warum wird in Deutschland nicht schon längst so verfahren, wie ich es ganz intuitiv gemacht habe?

    11. Überzeugungsarbeit bei den Entscheidungsträgern

    Es ist Hochsommer 1995 und noch immer tut sich nichts. Ein Folgegespräch mit dem Vorstandsmitglied der Volkssolidarität, Dr. Winter, endete mit der Verabredung, daß ich ihm schreibe, wie ich mir meine künftige Arbeit genau vorstelle. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Auf eine Antwort werde ich wohl bis zum St. Nimmerleinstag warten. Der Vorsitzende, Dr. Kallas, soll angeblich die Volkssolidarität verlassen haben und sein Kollege Dr. Winter ist inzwischen verstorben.

    Auch die Senatsverwaltung hüllt sich noch immer in Schweigen. Da arbeitet jemand unentgeltlich - mit großem Erfolg bis zum Umfallen: Da besteht kein Handlungsbedarf.

    Die nächste Ausschußsitzung der Senatsverwaltung für Soziales steht bevor. Meine treue Mitstreiterin, Fr. Troscheid, mahnt energisch an, daß jetzt über unseren Antrag entschieden werden müsse. Ein Vorgespräch wird vereinbart.

    Wir rücken zu dritt an: Fr. Troscheid, ihre Marzahner Mitarbeiterin, Fr. Krebs und ich. Auf der anderen Seite des Tisches sitzen auch drei Frauen. Eine von ihnen kenne ich bereits: Fr. Dr. Fuhrmann. Ein gutes Omen.

    Doch gleich die Eröffnung droht zum Desaster zu werden. Unser Antrag könne in der nächsten Ausschußsitzung nicht behandelt werden, das sei zu kurzfristig. Haben wir richtig gehört? Im März eingereicht - und zu kurzfristig! Es entsteht ein so heftiges Wortgefecht, daß ich befürchte, die andere Seite des Tisches erhebt sich und erklärt das Gespräch für beendet. Mir wird Angst und Bange - sehe bereits meine Felle wegschwimmen.

    Mir fehlt in diesen Sachen jegliche Erfahrung, war das vielleicht nur das Eröffungsritual? Man einigt sich, gegenseitige Schuldzuweisungen zu unterlassen und über die Sache zu reden. Aber auch die Sache selbst scheint noch ein heißer Brei zu sein, um den die Katze schleicht. So etwas hat es in Berlin auf dem Selbsthilfesektor noch nie gegeben. Selbsthilfe war bisher - und so steht es in der Definition - immer Hilfe Betroffener für Betroffene (in aller Regel in Form von Gruppenveranstaltungen). Solche Arbeit wird unterstützt, etwa durch die Einrichtung und den Unterhalt von Selbsthilfekontaktstellen. Auch werden schon mal Referenten engagiert oder Mittel für einmalige Ausgaben bewilligt.

    Ich aber bin eine Nicht-Betroffene - was übrigens völlig unzutreffend ist: Gerade weil mich das Schicksal der Demenzkranken und ihrer pflegenden Angehörigen so betroffen gemacht hat, habe ich mich so engagiert! Als Nicht-Betroffene also, biete ich eine Hilfe zur Selbsthilfe an, die sich grundsätzlich von aller anderen Selbsthilfe unterscheidet:

    1. gibt es keine Selbsthilfe, die derart breit angelegt ist (Krisenintervention, Hausbesuche, Beratungssprechstunde und Gruppengespräche mit Krankenbetreuung).
    2. können sich die Betroffenen (die Demenzkranken) nicht selber helfen - das geht nur über ihre Angehörigen.
    3. sind die pflegenden Angehörigen selbst indirekt betroffen, können sich in gewisser Weise auch gegenseitig helfen, z.B. ihre soziale Isolation zu überwinden. Helfen, ihren Pflegealltag besser zu bewältigen - und damit dem primär betroffenen Demenzkranken zu helfen - können sie nur bedingt. Dazu fehlt ihnen oftmals nicht nur die Zeit und die Kraft, sondern auch das Fachwissen. Die Situation ändert sich aufgrund des fortschreitenden Krankheitsverlaufs zu häufig und ist auch entscheidend von der physischen und psychischen Veranlagung des Pflegenden und des zu Pflegenden abhängig.

    So bin ich also die erste in der Viermillionenstadt Berlin, die für sich - zumal als Nicht-Betroffene - eine (halbe) Planstelle für Selbsthilfe beansprucht.

    "Wir haben uns doch bei SEIN e.V. kennengelernt?" fragt mich Frau Dr. Fuhrmann, "Leiten Sie da nicht auch eine Gruppe? Die kommt doch in Ihrem Antrag gar nicht vor." Aha, von daher weht der Wind! Glückliches Marzahn - und der Rest von Berlin geht leer aus?

    Jetzt erst kommen alle meine Aktivitäten auf den Tisch: Mitte, Friedrichshain, Zehlendorf und Marzahn sowieso. "Würden Sie das dort weiter fortsetzen wollen und auch in weiteren Bezirken neue Gruppen initiieren wollen?" Ich bin überglücklich - genau das habe ich mir immer gewünscht. Und Fr. Troscheid ist mit dabei.

    Wir haben den Fuß in der Tür, aber wir sind noch nicht durch. Von nun an werden mir von unseren Gesprächspartnern sehr gezielte Fragen gestellt, die ich ebenso präzise beantworte. Alles wurde besprochen, Krankheitsbild, Krankheitsverlauf, Situation der Demenzkranken und ihrer pflegenden Angehörigen, wie, wo, wann und wie lange ich mit meinen Interventionsmaßnahmen helfe und mit welchem Erfolg. Mit meinem Wissen und meiner Erfahrung blieb ich keine Antwort schuldig. Ich spürte förmlich, wie das Interesse während des Gesprächs ständig wuchs. Und besonders auch die Betroffenheit. Ich glaube, so deutlich hat noch niemand diesen drei Entscheidungsträgern die verzweifelte Situation vieler pflegender Angehöriger Demenzkranker klar gemacht. Endlich wurde gesehen, daß hier dringender Handlungsbedarf besteht.

    Schließlich geht es "nur" noch um die Frage der Finanzierung. Ich bin froh, daß jetzt Frau Troscheid das Heft übernahm! In diesen Dingen bin ich noch völlig unerfahren, was unseren Gesprächspartnern nicht verborgen bleibt: "Das ist wohl nicht Ihr Ding?" fragt mich Frau Dr. Fuhrmann. "Nein, meine Stärken liegen woanders." muß ich zugeben.

    Nach vier Stunden ist die Sache soweit perfekt, daß Frau Dr. Fuhrmann uns zusagt, noch in der nächsten Ausschußsitzung die Einrichtung einer halben Planstelle zum 1. Januar 1996 zu empfehlen. Sogar für die Zeit von September bis Dezember will sie Mittel beantragen. Das Gespräch, das in einer zum Zerreißen gespannten Atmosphäre begonnen hat, endet in völliger Übereinstimmung und Harmonie.

    Bis Montag müssen die notwendigen Unterlagen vorliegen. Jetzt ist Fr. Troscheid am Zug. An einem einzigen Arbeitstag wird eine Stellenbeschreibung entworfen, ein Kostenplan aufgesetzt und ein Anschreiben verfaßt. Alles sauber durchdacht und exzellent formuliert - eine ungeheuere Leistung!

    30. August 1995. Der Ausschuß tagt. Ich bin auf alles gefaßt. Mich kriegt man nicht klein (ich bin es schon - aber nur äußerlich). Außerdem habe ich ja noch etliche Eisen im Feuer. Mein Telefon klingelt: "Troscheid, unser Antrag ist durch! - Hallo? Sie sagen ja gar nichts! Am Montag 9 Uhr bei mir, dann machen wir den Vertrag. Ab 1.9. sind Sie beim SPI." Noch im Nachhinein denke ich manchmal, ich träume.

    Montag, 4. September, die Formalitäten sind erledigt. Die Tinte ist noch feucht, da werde ich zum "Projektleiter" geschlagen. Wir suchen einen Namen für unser Projekt. "Alzheimer-Initiative Berlin - unter diesem Titel habe ich es beim Berliner Gesundheitspreis eingereicht" antworte ich. "Sagen wir mal lieber 'Angehörigen-Initiative Berlin' - wir wollen doch die Alzheimer Gesellschaft Berlin nicht verärgern. Früher oder später werden wir ja doch irgendwie zusammenarbeiten." - "Abgemacht!"

    12. Quo vadis?

    Nun stehe ich nicht mehr allein da, habe beherzte Mitstreiter an meiner Seite und eine Gruppe Angehöriger hinter mir, die allmählich eine ungeahnte Initiative entwickeln. Mein Ziel sehe ich klar vor Augen - allein der Weg dorthin, liegt noch ein wenig im Verborgenen. Ich bin auf jeden Umweg und jede Abkürzung gefaßt.

    Einige Hürden auf dem Weg sind bereits jetzt erkennbar:

    • Das ist zum einen das Problem, die Betroffenen über die Hilfsangebote der "Angehörigen-Initiative Berlin" zu informieren. Über die verschiedenen Gremien in denen ich bald vertreten sein werde (vor allem PSAGen) brauche ich mir um meine persönliche Auslastung keine Sorgen zu machen. Das sind die effektivsten Informationswege zu meiner Zielgruppe. Will ich aber alle 41.000 erreichen, muß ein systematischer Ansatz gefunden werden. M.E. sind die Gutachter, die im Rahmen der Pflegeversicherung tätig werden, diejenigen, die am ehesten die Betroffenen über wohnortnahe Hilfsangebote informieren könnten.
    • Da ist zum anderen die große Hemmschwelle der pflegenden Angehörigen, Hilfsangebote, wie die meinen, überhaupt anzunehmen. Hilfe kann man nicht aufdrängen, aber wir können die Literatur durchforsten, welche Ansätze es gibt, die Hemmschwelle zu überwinden.
    • Schließlich ist da noch ein Mengenproblem. Wollte man auch nur 20.000 pflegenden Angehörigen wöchentlich anteilig 60 Minuten Unterstützung zukommen lassen, bräuchte man dafür netto 600 Vollzeitkräfte. Wer soll das bezahlen? Ein Finanzproblem!

    Wenn das Finanzproblem gelöst ist, stellt sich das Mengenproblem von einer neuen Seite: Wo finde ich so viele qualifizierte Mitstreiter? Ihre Ausbildung muß nach dem Schneeballprinzip erfolgen, d.h. ich brauche zu Beginn äußerst leistungsstarke Mitstreiter, die ihrerseits sich ihren Nachwuchs ausbilden und so fort. In 10 Jahren hoffe ich so mein Ziel erreicht zu haben.

    Zum Schluß noch eine Anmerkung zu den geplanten Betreuungsgruppen: Noch wird von der Angehörigen-Initiative Berlin keine Betreuungsgruppe angeboten. Der Antrag über die Förderung einer solchen Einrichtung liegt der entsprechenden Senatsverwaltung für Soziales aber vor. Sobald die Mittel bewilligt sind, werde ich die erste Betreuungsgruppe in Berlin mit dem SPI aufbauen.

     


     

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