Inhalt:
- Pflegende Angehörige brauchen eine Interessenvertretung
- Ärzte
- Medizinischer Dienst der Krankenkassen (MDK)
- Pflegekassen
- Pflegeeinsätze
- Pflegekräfte der ambulanten Dienste
- Pflegekräfte in den Tagesstätten
- Pflegekräfte in Heimen
- Pflegekräfte in Akutkrankenhäusern
- Kurzzeitpflegeeinrichtungen
- Hol- und Bringedienste
- Gesetzliche Betreuer
- Schlußbemerkung
Die Alzheimer Angehörigen-Initiative als Fürsprecher für Angehörige und Demenzkranke
Die mir bekannten Beratungskonzepte gehen ausschließlich
von dem Belastungserleben der Hauptpflegeperson in ihrer Wechselbeziehung
mit dem Demenzkranken aus. Die Einflußnahme auf unangemessen
handelnde Menschen und Institutionen im Umfeld der Demenzkranken
und ihrer pflegenden Angehörigen (äußeres Spannungsfeld)
macht einen erheblichen Anteil der Angehörigenarbeit aus.
Dieser darf gegenüber ihrer traditionellen Ausrichtung auf
das objektive und subjektive Belastungserleben der pflegenden
Angehörigen - etwa aufgrund des Pflegebedarfs und Einstellung
zum Kranken sowie zur eigenen Lebenssituation (inneres Spannungsfeld)
- nicht vernachlässigt werden. An Praxisbeispielen möchte
ich aufzeigen, wie die Alzheimer Angehörigen-Initiative e.V.
im Einzelfall - direkt oder indirekt - auf die qualitätsgerechte
Bereitstellung von Leistungen anderer Einrichtungen Einfluß
nimmt.
Professionelle Helfer und Einrichtungen weisen im Umgang mit dem
Problemfeld Demenz gelegentlich erhebliche Defizite auf. Die folgenden
Beispiele sind keinesfalls vollständig und schon gar nicht
repräsentativ. Sie gewähren lediglich einen kleinen
Einblick in die breite Palette von Problemfeldern, denen die Betroffenen
tagtäglich ausgesetzt sind. Auch hier ist der Handlungsbedarf
kaum abschätzbar. Was die Angehörigen-Initiative Berlin
e.V. hier z.Zt. an Schadensbegrenzung leisten kann, ist allenfalls
ein Tropfen auf den heißen Stein.
Alle Beispiele sind authentisch. Sie wurden aus den Beratungs-
und Gruppengesprächen der letzten zwei Jahre zusammengetragen.
Ärzte sind die erste Anlaufstelle für Demenzkranke und
deren Angehörige. Häufig beklagen sich die pflegenden
Angehörigen, daß sich die Ärzte nicht die erforderliche
Zeit nehmen, um gründlich über das Krankheitsbild und
den zu erwartenden Krankheitsverlauf aufzuklären. Anscheinend
verfügen sie auch nicht über die Kenntnisse, um die
Angehörigen über angemessene Umgangsweisen mit dem Kranken
zu beraten. Und schon gar nicht verweisen sie pflegende Angehörige
an entsprechende Hilfseinrichtungen. Die wenigen Ärzte, die
das tun, sind wirklich rühmliche Ausnahmen. Ich sage es mit
aller Deutlichkeit:: Viel zu viele Hausärzte lassen die Demenzfamilie
in unverantwortlicher Weise ratlos und hilflos allein. Dazu nur
ein paar Beispiele:
- Die "Beratung" eines Arztes beschränkte sich
darauf zu sagen (sinngemäß): "Damit müssen
Sie sich abfinden, daß Ihr Mann allmählich verblödet.
Da kann ich leider gar nichts tun. Aber wenn Ihr Mann aggressiv
wird, dann kommen Sie wieder, dann verschreibe ich ihm etwas."
- In dieser Art von "Beratung" drückt sich ein
völlig unberechtigter therapeutischer Nihilismus aus. Dieser
äußert sich oftmals auch direkt:: "Wie alt ist
Ihre Mutter? 85! Na, was erwarten Sie denn da noch?"
- Ein anderer Arzt verschrieb zwar ein Nootropicum, ging aber
unmittelbar darauf in Urlaub, ohne auch nur ein Wort über
die möglichen körperlichen Nebenwirkungen dieses Medikamentes
zu verlieren. Außerdem unterließ er es, die bei diesem
Medikament unbedingt notwendigen Begleituntersuchungen zu veranlassen.
- Auch bei der Verschreibung von Medikamenten mit sedierender
Wirkung wurden die Angehörigen nicht über mögliche
Konsequenzen informiert: Ein ruhig gestelltes Gehirn verfällt
schneller als ein aktiviertes. Entsprechend unbedarft verabreichen
die Angehörigen - im Vertrauen auf den Arzt - diese Medikamente,
z.B. weil der Kranke weinte und allabendlich zu seinen längst
verstorbenen Eltern wollte.
Immer wieder stelle ich fest, daß Hausärzte Demenzkranke
nur sehr zögerlich an fachkompetente Kollegen überweisen.
Die Angehörigen erhalten dann unspezifische Diagnosen wie
z.B. "HOPS" und sind dann froh, daß der Patient
nicht an "Alzheimer" leidet. Oder dem Angehörigen
wird gesagt, der Kranke sei "verkalkt" und das sei doch
bei dem Alter ganz normal. In unverantwortlicher Weise wird das
Krankheitsbild heruntergespielt. Da drängt sich doch der
Verdacht auf, daß der Kranke möglichst lange durch
die eigene Praxis betreut werden soll.
In all diesen Fällen mußte ich erst ausgleichende Maßnahmen
einleiten, z.B. die Angehörigen über Gedächtnissprechstunden
, z.B. bei der Charité, informieren, wo fachgerechte Diagnosen
gestellt werden und wie wichtig diese für die weitere Lebensplanung
sind. Selbstverständlich kläre ich den Angehörigen
über die Krankheit und den zu erwartenden Krankheitsverlauf
auf sowie über die krankheitsgerechte Pflege und Betreuung.
Das sollte aber eine Ergänzung der ärztlichen Leistung
sein und kein Ersatz dafür.
Zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit schickt der Medizinische
Dienst der Krankenkassen z.B. Urologen, HNO- und Kinderärzte
- nur so gut wie keine Neurologen.
Mit dem Krankheitsbild Demenz unerfahrene Ärzte neigen zuweilen
dazu, dem Kranken Suggestivfragen zu stellen. Diese werden von
dem Kranken naheliegenderweise falsch beantwortet. Entsprechend
fallen dann die Gutachten unqualifiziert aus und führen so
zu Fehleinstufungen. Wir leiten dann regelmäßig Widerspruchsverfahren
ein. Mein Mann hat auf dem PC einen Musterbrief verfaßt,
der uns die Arbeit sehr erleichtert. Die genaue Kenntnis der Lebenssituation
der Kranken, die ich persönlich kenne, und der Angehörigen,
die ich seit langem begleite, erleichtern mir die Erstellung individueller
Widersprüche. Trotzdem bindet sie weiterhin viel Energie.
Immerhin waren bis jetzt jedoch alle entschiedenen Widersprüche
der Alzheimer Angehörigen-Initiative e.V. erfolgreich.
Von dem unseligen Papierkrieg einmal abgesehen, richten die Gutachter
nicht selten unbewußt direkte Angriffe auf das ohnehin erheblich
gestörte Selbstwertgefühl der Demenzkranken:
- Häufig wird mit dem pflegenden Angehörigen im Beisein
des Kranken über dessen Defizite gesprochen.
- Ein Arzt drohte dem Demenzkranken gar mit Strafe, falls er
nicht aufhöre zu weinen.
- Ein anderer Arzt redete die Kranke unsensibel und respektlos
an: "Komm, Muttchen, tanzen wir mal miteinander."
- Eine schwer gehbehinderte Kranke wurde zwecks Begutachtung
mit ihrer Tochter gar in die Arztpraxis bestellt - was auch gar
nicht zulässig ist.
In diesen Fällen kann ich die pflegenden Angehörigen
nur ermuntern, sich beim MDK über derartiges Verhalten zu
beschweren, in der Hoffnung, daß durch nachdrückliche
Beschwerden Fehlverhalten bewußt gemacht und letztlich vermieden
werden.
In der Praxis orientieren sich die Pflegekassen bei der Anwendung
des PflegeVG oftmals nicht ausreichend an dem Krankheitsbild Demenz.
Die Spielräume, die der § 14, Abs. 3 bietet, in dem
der Bedarf an "aktivierender Pflege" geregelt ist, werden
zu wenig berücksichtigt. Erst im Widerspruchsverfahren werden
dann z.B. die aufwendigen Anleitungshilfen als Pflegezeiten anerkannt.
Ganz zu schweigen von den zuweilen langen Bearbeitungszeiten!
Oftmals resignieren die Angehörigen und ich muß sie
dann erst wieder mühsam motivieren, ihren Rechtsanspruch
durchzusetzen.
Wird dann das Pflegegeld nach dem PflegeVG bewilligt, kommen die
sgn. "Pflegeeinsätze". Das sind qualitätssichernde
Kontrollbesuche bei den Leistungsempfängern, die ausschließlich
Geldleistungen in Anspruch nehmen. Pflegeeinsätze werden
von Sozialstationen und privaten Pflegeeinrichtungen durchgeführt,
die auch ein wirtschaftliches Interesse daran haben, abrechenbare
Leistungen zu verkaufen. In einem außergewöhnlichen
Fall wurde von einer privaten Pflegeeinrichtung der Pflegeeinsatz
offenkundig als Vorwand genutzt, um rücksichtslos wirtschaftliche
Interessen zu verfolgen.
So spielte sich eine Mitarbeiterin als "Gutachterin"
auf und beschuldigte den pflegenden Ehegatten, seine Frau zu vernachlässigen.
Der Grund: Der Mann hatte lediglich zwei Einsätze zur Grundpflege
und häuslichen Pflege in Anspruch genommen, statt fünf,
wie von der Pflegeeinrichtung gewünscht. Um ihrem Ansinnen
Nachdruck zu verleihen, zog die Mitarbeiterin der Pflegeeinrichtung
sogar die Hausärztin hinzu.
Durch meine regelmäßigen Hausbesuche in den letzten
zwei Jahren war ich jedoch über die hingebungsvolle Pflege
des Ehemanns bestens informiert. Erst einmal klärte ich den
Angehörigen auf, daß wegen der Inanspruchnahme von
Sachleistungen gar kein Pflegeeinsatz gerechtfertigt war und stärkte
durch meine fürsorgliche Ansprache den innerlich schwer verletzten
Mann. Außerdem intervenierte ich energisch bei der Pflegeeinrichtung,
um solchem unverfrorenen Vorgehen eine Schranke zu setzen.
Die erheblichen Guthaben der Pflegekassen sind u.a. darauf zurückzuführen,
daß pflegende Angehörige lieber die geringeren Geldleistungen
in Anspruch nehmen, als die besser vergüteten Sachleistungen.
Meines Erachtens ist das darauf zurückzuführen, daß
die Sachleistungen sich nicht am Problemfeld Demenz orientieren.
Was nützt z.B. eine Hauspflegerin, die zur Grundpflege kommt,
- und sich der Demenzkranke uneinsichtig zeigt und sich gegen
die Hilfeleistung energisch wehrt?
- und zehn Minuten nach ihrem Weggehen der Demenzkranke infolge
seiner Inkontinenz alle geleistete Arbeit zunichte macht? Dann
steht der Angehörige mit der Körperpflege doch wieder
alleine da.
Pflegende Angehörige berichteten mir von Pflegekräften,
die eingesetzt wurden, ohne über das Krankheitsbild informiert
zu sein. Sie übergehen dann z.B. unter Berufung auf ihre
Fachkompetenz alle - dem Demenzkranken helfenden - Riten und rufen
so u.U. eine kaum noch zu beherrschende Situation hervor. Wenn
dann in der Pflegedokumentation steht, der Kranke habe sich widerspenstig
und aggressiv verhalten, belastet das den pflegenden Angehörigen,
statt ihn zu entlasten.
Auch hier nehme ich über den Angehörigen - zuweilen
aber auch direkt - mit der Einrichtung Kontakt auf, um solche
Vorkommnisse zu reduzieren.
Tagesstätten sind segensreiche Einrichtungen, die die Kranken
nicht nur im Sinne einer ganzheitlichen Pflege aktivieren sollen,
sondern den pflegenden Angehörigen auch zeitweise entlasten
bzw. die weitere Berufstätigkeit ermöglichen. Allerdings
weigern sich viele Tagesstätten, Alzheimerkranke aufzunehmen,
da ihre Organisation und Infrastruktur nicht auf die typischen
Symptome wie Inkontinenz, Unruhe und Weglauftendenz ausgerichtet
ist.
Auch das Wissen des Pflegepersonals läßt häufig
zu wünschen übrig. 60 % der Pfleger klagen darüber,
nicht ausreichend über dementielle Erkrankungen informiert
zu sein. Entsprechend häufig sind Fehlhandlungen, von denen
hier nur eine exemplarisch herausgegriffen sei:
Ein harninkontinenter Demenzkranker wird vom Fahrdienst nach Hause
gebracht. Die Autositze sind nicht vor Einnässen geschützt.
Entsprechend unangenehm sind die Folgen, als der Kranke während
der Fahrt Wasser läßt. Auf Nachfrage antwortet das
Pflegepersonal, daß sie doch zehn Minuten vor der Heimfahrt
den Kranken gefragt hätten, ob er zur Toilette müsse
und dieser habe mit "nein" geantwortet.
Diese Rechtfertigung zeigt, daß in diesem Fall das Krankheitsbild
Demenz völlig ignoriert wurde. Natürlich reicht es nicht
aus, den Demenzkranken nur zu fragen. Besser wäre es gewesen,
entsprechende Impulse zu setzen, z. B. indem man den Kranken zur
Toilette führt. Ob in dieser Tagesstätte überhaupt
ein Toilettentraining durchgeführt wird, erscheint unter
diesen Umständen zumindest fraglich.
Eigentlich hätte der Tagesstätte der Vorfall peinlich
sein müssen. Statt dessen verursachte eine vorwurfsvolle
Haltung der Tagesstättenleiterin gegenüber der pflegenden
Ehefrau bei dieser ein Gefühl der Peinlichkeit. Auch hier
war ich wieder gefordert, die Dinge ins rechte Licht zu rücken,
der Angehörigen den Rücken zu stärken und auf die
Tagesstätte aufklärend einzuwirken.
In Berlin haben es pflegende Angehörige schwer, überhaupt
ein Heim zu finden, das bereit ist, einen Alzheimer-Kranken aufzunehmen.
Wie muß ein pflegender Angehöriger empfinden, dem nach
jahrelanger aufopfernder Pflege - physisch und psychisch an Ende
und von Schuldgefühlen gequält - gesagt wird: "Zehn
Jahre haben wir einen Alzheimer gepflegt; nun ist er Gott sei
Dank verstorben."?
Die Pflege im Heim wird allein schon durch die räumliche
Veränderung zusätzlich erschwert. Auf die erhöhte
Desorientierung reagiert der Kranke mit verstärkter Unruhe
und Angst. Seine Hilflosigkeit nimmt zu. Die jetzt so notwendige
Zuwendung und Ansprache kann das Heim - mit welchem Personalschlüssel
auch immer - nicht leisten. Es bleibt meist nichts anderes übrig,
als mit sedierenden Medikamenten und zeitweiser Fixierung beherrschbare
Situationen zu schaffen. Die Folge ist oftmals ein rapide fortschreitender
Krankheitsverlauf.
Pflegende Angehörige, die sich nach zähem Ringen für
eine Heimeinweisung entschieden haben, beobachten das weitere
Geschehen sehr kritisch, um zu prüfen, ob ihre Entscheidung
richtig war. Angesichts der plötzlichen Verschlechterung
fragen sie sich entsetzt: "Was habe ich getan?" Eine
80-jährige pflegende Ehefrau drückte das treffend so
aus: "Die Schuldgefühle quälen mich jetzt mehr
als meine ständigen Rückenschmerzen, derentwegen ich
meinen Mann dem Heim anvertrauen mußte." Die physische
Entlastung von der Pflege führt daher nicht immer zu einer
Abnahme des Belastungserlebens, sondern verstärkt u.U. die
psychische Belastung.
Diese pflegenden Angehörigen brauchen jetzt die stützende
Fürsprache mehr denn je. Oft hilft hier die Angehörigengruppe,
manchmal müssen auch ganz unkonventionelle Wege gefunden
werden, um Schuldgefühle bewältigen zu helfen. So bat
mich z.B. ein Angehöriger um einen Besuch im Heim, damit
ich ihm die Richtigkeit seiner mühsam getroffenen Entscheidung
bestätige.
Neben dem chronischen Personalmangel wirken sich Unverständnis
und fehlendes Einfühlungsvermögen verschärfend
auf die beschriebene Situation aus. Mangelnde Kenntnisse über
das Krankheitsbild Demenz lassen somit ein Verstehen der vielen
Fehlhandlungen nicht zu. Vor allem berichten Angehörige häufig
von dem völlig falschen Eingehen auf die veränderte
innere Erlebniswelt des verwirrten Menschen. So wird z.B. einem
desorientierten Alzheimerkranken patzig geantwortet: "Ich
bin nicht Ihr Frauchen!" Derartige Erlebnisse werden dann
in der Angehörigengruppe zur Sprache gebracht. Hier erfahren
die Angehörigen die notwendige Rückenstärkung,
um beobachtete Mißstände auch im Heim zur Sprache zu
bringen.
Akutkrankenhäuser sind anscheinend mit der Aufnahme von Demenzpatienten
völlig überfordert. Dies führte in einem Fall sogar
dazu, daß ein Kranker wenige Stunden nach der ärztlichen
Einweisung nachts um 2 Uhr wieder nach Hause gebracht wurde. Es
bestehe kein Grund für einen weiteren Krankenhausaufenthalt.
Insgesamt trifft die Situation aus den Heimen auf Akutkrankenhäuser
in verschärfter Weise zu, da deren Organisation nicht auf
Demenzpatienten ausgerichtet ist. Entsprechend der Spezialisierung
der jeweiligen Station steht der Einweisungsgrund (z.B. vermuteter
Herzinfarkt) im Zentrum des Interesses. Die Demenz wird dagegen
ignoriert, bzw. lediglich als störende Begleiterscheinung
gesehen.
Folgende Vorkommnisse wurden berichtet:
- Ein Kranker blieb unbeaufsichtigt bei offenem Fenster aufgedeckt
liegen. Er wurde so völlig unterkühlt von seiner Ehefrau
vorgefunden. Kurz darauf erkrankte er an einer Lungenentzündung
und verstarb.
- Einem anderen Kranken wurde das Essen gebracht und nach einer
Weile unangetastet wieder weggenommen. Die Schwester wußte
nicht, daß der Patient nur noch bedingt selbständig
essen konnte und vermutete Appetitlosigkeit.
- Gleiches passierte mit dem Trinken. Während zu Hause
das mangelnde Durstgefühl durch die Aufmerksamkeit der pflegenden
Ehefrau kompensiert wurde, achtete im Krankenhaus niemand darauf,
ob bzw. wieviel der Patient im Laufe des Tages trank. Dies führte
nach ein paar Tagen zu einem akuten Delir. Die weitere Verschlechterung
der Verwirrtheit wurde zunächst nicht dem Flüssigkeitsmangel,
sondern der Demenz zugeschrieben.
- Der Demenzkranke wurde zudem inkontinent, weil er weder den
Rufknopf betätigte, noch selbständig die Toilette fand.
Ein an sich notwendiges Kontinenztraining fand also nicht statt,
mit der Folge, daß der Patient auch zu Hause inkontinent
blieb.
- Während dieser Patient in den erwähnten Situationen
überfordert war, wurde er bei der Morgen- und Abendtoilette
unterfordert. Aus Zeitmangel wurde er nicht zum Waschen und Rasieren
angeleitet. Statt dessen tat das die Schwester kurzerhand, was
der Patient sogar mit Wohlwollen annahm. Zum Ende des Krankenhausauftenthalts
hatte er dann die Fähigkeit zur bedingt selbständigen
Körperpflege völlig verloren.
Aus der Diskussion dieser Begebenheiten in den Angehörigengruppen
zogen einige pflegende Angehörige den Schluß, im Krankenhaus
im Bedarfsfall mehr Präsenz zu zeigen, statt die Dauer des
Aufenthalts zur eigenen Entlastung zu nutzen. Die von den Angehörigen
angebotene Hilfe wird aber von den Krankenhäusern sehr unterschiedlich
angenommen - dabei sind doch die pflegenden Angehörigen
wichtige Informationsträger und "Dolmetscher" der
Kranken.
Kurzzeitpflegeeinrichtungen ermöglichen den pflegenden Angehörigen
den so wichtigen Urlaub von der Pflege. Oftmals nehmen pflegende
Angehörige diese Einrichtungen erst in Anspruch, wenn sie
selber ihre Belastungsgrenze erreicht haben. So kommt es gar nicht
selten vor, daß sich pflegende Angehörige nach dem
Urlaub freiwillig dazu entschließen, den Kranken in ein
Heim zu geben, um die Belastung der Pflege nicht erneut auf sich
nehmen zu müssen.
Immer wieder wird mir aber auch von pflegenden Angehörigen
berichtet, daß sie ihren Kranken nach der Kurzzeitpflege
mit einem sich sprunghaft verschlechterten Gesundheitszustand
zurückbekommen haben. In einigen Fällen war die Verschlechterung
so dramatisch, daß eine Fortführung der Pflege zuhause
gar nicht mehr möglich war. Ich führe das darauf zurück,
daß die Kranken - ihrer gewohnten Umgebung entrissen - mit
Unruhe reagieren und einen starken Drang entwickeln wegzulaufen.
In mehreren Fällen mußten Kranke nach teilweise abenteuerlichen
Irrfahrten von der Polizei zurückgebracht werden. Offensichtlich
sind nicht alle Kurzzeitpflegeeinrichtungen dieser schwierigen
Situation gewachsen. Um dennoch die Situation zu bewältigen,
werden Psychopharmaka in einer sedierend wirkenden Dosierung eingesetzt,
Ein ruhig gestelltes Gehirn verliert gegenüber einem aktiviertem
Hirn sehr schnell an Leistungsfähigkeit. Für einen Alzheimer-Kranken,
hat das fatale Folgen auch auf seine Motorik: Er wird trittunsicher
und sturzgefährdet. Im Bett fühlt er sich dann scheinbar
wohler, wo man ihn dann auch gerne beläßt. Mangelt
es dann noch an der notwendigen Dekubitus-Prophylaxe, wird der
Kranke zum Schwerstpflegefall "ins Bett gepflegt".
Die folgende Begebenheit ereignete sich genau so in einer Kurzzeitpflegeeinrichtung,
die damit warb, eine lange Tradition in der Betreuung von Diabetikern
zu haben. Beruhigt vertraute eine pflegende Ehefrau ihren an Diabetes
und Alzheimer erkrankten Mann dieser Einrichtung für vier
Wochen an.
In dieser Zeit war der Kranke mehrfach weggelaufen, was zur Folge
hatte, daß der Kranke über lange Zeit weder mit Nahrung
noch mit Insulin versorgt wurde. Am Ende des Aufenthalts hatte
der Mann zehn Kilogramm Gewicht verloren und konnte nicht mehr
selbständig aufstehen oder stehenbleiben. Er mußte
liegend nach Hause transportiert werden. Der Kranke war inzwischen
völlig desorientiert und erkannte selbst seine Ehefrau nicht
mehr. Auch war er inzwischen inkontinent geworden. Erst als die
Ehefrau die Windeln erstmals wechselte, bemerkte sie einen großen
Dekubitus am Steißbein, der ihr verschwiegen worden war,
ebenso wie die Dekubiti an den Fersen. Die tiefen Wunden mußten
unverzüglich in einem Akutkrankenhaus behandelt werden.
Die pflegende Ehefrau quälen seither schreckliche Schuldgefühle.
Sie warf sich vor, ihren Mann ins Unglück gestürzt zu
haben, während sie selber auf der dringend notwendigen Kur
neue Kraft für die Fortsetzung der Pflege schöpfen wollte.
Seither geben wir in vielen Einzel- und Gruppengesprächen
dieser verzweifelten Frau zu bedenken, daß nicht sie versagt
hat, sondern die Kurzzeitpflegeeinrichtung. Dank ihrer fürsorglichen
Betreuung ist in all den Jahren der Pflege nie der Zuckerspiegel
entgleist und schon gar kein Druckgeschwür entstanden. Auch
hat sie ihren Mann bis zuletzt geistig gefordert und für
ausreichende körperliche Bewegung gesorgt.
Darüber hinaus wird sich die Angehörigen-Initiative
Berlin e.V. mit einer Beschwerde an die Heimaufsichtsbehörde
wenden.
Die sehr hilfreichen Hol- und Bringedienste stellen sich z.T.
nur unzureichend auf Demenzkranke ein. So kann sich für einen
Demenzkranken mit starken räumlichen Wahrnehmungsschwierigkeiten,
beim Aussteigen aus einem Kleinbus ein unüberwindliches Loch
auftun.
Aufforderungen des pflegenden Angehörigen, künftig eine
Ein- und Austrittshilfe (Tritt) bereitzustellen, wurden mit fadenscheinigen
Begründungen abgewiesen, etwa der Kranke könne sich
daran verletzen.
Völlig überfordert war der Fahrer eines Kleinbusses
der alleine sechs Demenzkranke von der Tagespflegestätte
nach Hause bringen mußte. So konnte es geschehen, daß
diesem Fahrer ein Demenzkranker aus dem Wagen heraus davonlief,
während er einen anderen Kranken zu dessen Wohnungstür
brachte.
Auch hier mußte ich mich erst einschalten, um Verbesserungen
zu bewirken, damit die pflegende Ehefrau ihren Mann weiterhin
dem Fahrdienst anvertraut.
Betreuer, im juristischen Sinn, nehmen die Interessen von geschäftsunfähig
gewordenen Personen wahr. Sie treffen Entscheidungen z.B. in Vermögensfragen,
verfügen aber oftmals auch über das Aufenthaltsbestimmungsrecht.
So kann die Einweisung in ein Pflegeheim nur von einem gesetzlichen
Betreuer veranlaßt werden; d.h. der pflegende Angehörige,
der seinen Demenzkranken in die Obhut eines Heimes geben will,
ist gezwungen, zuvor die gesetzliche Betreuung für sich zu
beantragen. Bis zur Einführung des neuen Betreuungsrechts
vor wenigen Jahren nannte man diesen Vorgang "Entmündigung"
und wird von vielen Angehörigen auch heute noch als solche
empfunden. Sie schieben die Entscheidung zu diesem Schritt oft
lange vor sich her und fühlen sich als "Verräter",
wenn sie ihn schließlich doch tun (müssen).
Emotional erschwert wird die Beantragung der gesetzlichen Betreuung
durch Formalitäten, die sicherlich im Sinne des zu Betreuenden
gut gemeint sind. Sie wirken aber vor allem auf pflegende Ehepartner
geradezu verletzend. Verstärkt wird dieser Eindruck besonders
dann, wenn in den Amtsstuben ein unangemessener Ton angeschlagen
wird. Die Haltung, mit der dem Angehörigen dort begegnet
wird, ist zuweilen eher als obrigkeitsstaatlich zu bezeichnen,
als von Empathie und Wissen um die Situation des Pflegenden getragen.
Im konfliktfreien Raum nimmt üblicherweise der pflegende
Angehörige die gesetzliche Betreuung wahr. Sobald aber hierüber
keine familiäre Einigkeit besteht, bestimmt das Vormundschaftsgericht
hierfür einen amtlichen Betreuer. Meist sind das Rechtsanwälte.
In diesem Fall wird dem pflegenden Angehörigen sein ohnehin
belasteter Pflegealltag zusätzlich erschwert. Er muß
z.B. über alle Ausgaben Rechenschaft ablegen und muß
sich in Fragen der medizinischen Versorgung erst durch den Betreuer
autorisieren lassen.
Unter Umständen werden Konflikte in geschwisterlichen Beziehungen
über den Betreuer ausgetragen, der Hinweisen des nicht pflegenden
Kindes nachgehen muß. Für das pflegende Kind stellt
sich das dann so dar, daß seine pflegerische Kompetenz von
amtlicher Seite in entwürdigender Weise pauschal infrage
gestellt wird. Außerdem wird mit der Heimeinweisung des
pflegebedürftigen Elternteils und Liquidierung seines Immobilienbesitzes
gedroht.
Um möglichen Schaden von dem Kranken abzuwenden, rate ich
- den Betroffenen, noch im Anfangsstadium der Demenz eine
Betreuungsrecht-Vorsorgevollmacht
zu vereinbaren, bzw.
- dem pflegenden Angehörigen, sich bei Gericht als gesetzlicher
Betreuer einsetzen zu lassen.
In ihrer gebündelten Darstellung vermitteln die hier aufgeführten
Beispiele ein scheinbar katastrophales Bild von der Arbeitsqualität
professioneller Einrichtungen im Umfeld des Demenzkranken und
seines pflegenden Angehörigen. Diese Zusammenstellung soll
nicht dazu dienen, die Arbeit anderer abzuqualifizieren, sondern
das Augenmerk auf einen bislang wenig beachteten wichtigen Aspekt
der Angehörigenarbeit zu lenken. Wegen der hier beschriebenen
Vorkommnisse, wurde das Ziel, die Betreuenden bei der Vertretung
ihrer Interessen zu unterstützen, mit in die Satzung der
Angehörigen-Initiative Berlin e.V aufgenommen.
In meiner Arbeit erlebe ich aber auch immer wieder das Engagement
und die hervorragenden Leistungen anderer professioneller Helfer
und Einrichtungen. Deren Arbeit wird erfahrungsgemäß
nur wenig gewürdigt und allzu oft nur als selbstverständlich
hingenommen. Dabei trägt doch die große Mehrheit der
professionellen Pflegekräfte durch ihre qualitativ hochwertige
Arbeit dazu bei, das Leben der Demenzkranken und ihrer pflegenden
Angehörigen zu erleichtern und damit ihre Lebensqualität
zu erhöhen.
© Rosemarie Drenhaus-Wagner
Alzheimer Angehörigen-Initiative e.V.
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